Am 13. September 1933 kam der Schriftsteller Armin T. Wegner in das KZ Börgermoor, in die „drückende Schwere und düstere Einsamkeit des fernen weitabgelegenen Moores“ (Landau/Wegner 1999: 40).
„Wir leben hier mitten im Moor. Die zwölf oder vierzehn Baracken unseres Lagers, die man auf Pfählen im Moor errichtet hat, liegen fern jeder dörflichen Siedlung völlig verlassen und einsam in der grauen Weite. (…) In ihrer Trostlosigkeit und grenzenlose Öde hat die Landschaft doch zugleich etwas Großartiges und Erhabenes, das mich zuweilen an die russische Steppe oder die arabische Wüste erinnert (…); hier wartet noch Boden der Urbarmachung, ist Arbeit für ein Jahrhundert.“
Armin T. Wegner an Lola Landau, 21.9.1933, KZ Börgermoor (Landau/Wegner 1999: 20f.).
Was seinem Grundgefühl einer inneren „Abgeschlossenheit“ gegenüber der Außenwelt durchaus entgegenkam, verstärkte zugleich seine Heimatlosigkeit und Entfremdung von der Welt, aus der er durch die insgesamt viermonatige Haftzeit gerissen wurde. „Da stehe ich“, schrieb Wegner wenige Tage nach seiner Entlassung an seine Frau Lola Landau, „Kraft und Schrecken in meiner Seele und schaue in eine leere Welt“ (Landau/Wegner 1999: 60).
Wegner gehörte wie der Rabbiner Max Abraham zu einem kleinen Transport prominenter Häftlinge, die aus dem KZ Oranienburg über Münster ins Emsland transportiert wurden. Über Wegners „Martyrium“ berichtete zwar mit diesem Ausdruck bereits die Exilpresse, aber er tauchte dort nur am Rande auf. Anders als Max Abraham, Wolfgang Langhoff oder Karl August Wittfogel hat Wegner über seine bis Ende 1933 dauernde Haftzeit kein vollständiges dokumentarisches oder autobiographisches Werk veröffentlicht.
Aber die Überlieferung an Selbstzeugnissen von ihm ist vielschichtig. Es gibt vier Tagebuchhefte und einige lose Zettel (Wilfinger 2011: 103) sowie Briefe an verschiedene Empfänger:innen aus dem KZ Börgermoor, darunter fünf an seine Frau Lola Landau, datiert zwischen dem 15. September und dem 17. Oktober 1933 (Landau/Wegner 1999). In einzelnen Prosawerken aus der Zeit nach 1945 („Die Peitsche“, „Das Verhängnis“, „Die Tür“) finden sich Bezüge auf seine Erfahrungen in den Gefängnissen und Lagern. Diese sind jedoch, unter anderem hinsichtlich der Datierungen, nicht verlässlich. Zudem gingen hier bereits Notizen aus veröffentlichten Berichten über die Emslandlager ein. Mitte der 1970er Jahre hat Wegner in Gesprächen über seine Haftzeit berichtet.
Eines ist besonders auffällig: In den Tagebuchheften finden sich ganz im Gegensatz zu den publizierten Berichten anderer Häftlinge kaum Hinweise auf die breit dokumentierte Gewalt der Wachmannschaften in den drei Konzentrationslagern Oranienburg, Börgermoor und Lichtenburg. Die Selbstzeugnisse geben über die Gründe dafür einigen Aufschluss, wie sich im Folgenden zeigen wird.
Unfreiheit
Wegners eigene grenzüberschreitende Erfahrung war vor allem der Akt der Verhaftung, zusammen mit den anschließenden Peitschenhieben. Nicht allein in physischer Hinsicht, sondern weil ihn dieses Erlebnis in einen Zwiespalt stürzte. Einerseits fühlte er sich weiterhin mit großer Überzeugung als „Deutscher“. So schrieb er am 25. November 1933 an seine Frau, „wie sehr mein Herz ihm (d.h. Deutschland) gehört“ (Landau/Wegner 1999: 49). Andererseits sah er sich als unschuldiges Opfer eines Umsturzes, dem er an sich nicht grundsätzlich feindlich gegenüberstand.
Seine Aufzeichnungen und Briefe aus dieser Zeit müssen deshalb als ein Ringen um Sinnstiftung angesichts eines großen Widerspruchs gelesen werden, den er sah. So versuchte Wegner, den für ihn grundlegenden Verlust an Freiheit zu verkraften. Der zuvor weit Gereiste hielt sich dabei an der „geistigen Welt“ fest:
„Wie einem Vogel zumute sein muß, der gewohnt war, auf seinen Flügen die ganze Welt zu durchstreifen, wenn er sich plötzlich in einen Käfig von Stacheldrähten gesperrt sieht (…). (D)ie geistige Welt, die rein um ihrer selbst willen da ist (…), kennt auch hier (im KZ Börgermoor, Vf.) keine Grenzen; weder Stacheldraht noch Mauern können sie aufhalten, und ihr Feld ist der unendliche Raum.“
Armin T. Wegner an Lola Landau, 17.10.1933 KZ Börgermoor (Landau/Wegner 1999: 36f.).
„Menschheitskämpfer“
Armin T. Wegner galt in der Weimarer Republik aufgrund seiner Lyrik als bekannt Literat. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er Gedichte im Stil des frühen Expressionismus verfasst. Seine Prosa und Reiseberichte verkauften sich in den 1920er Jahren gut. Er glaubte an eine herausgehobene Verantwortung der Intellektuellen und des „Geistes“. Als politischer Publizist hatte er mehrfach mit Manifesten gegen Krieg, Verbrechen und Gewalt interveniert sowie durch „Offene Briefe“ auf Politiker wie Woodrow Wilson oder Karl Liebknecht einzuwirken versucht. Besonders setzte er sich für das armenische Volk ein. Von sich selbst sprach er als „Menschheitskämpfer“.
Wegner wuchs in Wuppertal, Berlin und Schlesien auf. Er litt unter den Schlägen seines Vaters und wurde zugleich von seiner pazifistischen Mutter inspiriert. Wegner arbeitete als Landwirt, Schauspieler und Hafenarbeiter. 1914 promovierte er in Jura über das Streikrecht. Im Ersten Weltkrieg war er im Sanitätsdienst eingesetzt, zunächst an der Ostfront, dann im östlichen Anatolien. Er wurde Zeuge des Völkermords an den Armeniern. Seine Fotografien gehören zu den wichtigsten Bildzeugnissen dieses Verbrechens. Wegner verarbeitete seine Erlebnisse in der Türkei nach dem Krieg in zahlreichen Vorträgen, Romanen und Erzählungen.
Während der „Novemberrevolution“ war Wegner im „Politischen Rat geistiger Arbeiter“ von Kurt Hiller aktiv. Als politischer Publizist wandte er sich gegen Gewalt in Revolutionen. Wegner engagierte sich als Pazifist und war zusammen mit Hiller 1919 an der Gründung des „Bundes der Kriegsdienstgegner“ beteiligt. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre führten ihn ausgedehnte Reisen, die er in mehreren Büchern dokumentierte, durch Europa, in die Sowjetunion und in den Nahen Osten.
Als er mit dem Motorrad durch die Wüste Sinai und nach Palästina fuhr, begleitete ihn seine Frau, die jüdische Dichterin Lola Landau, mit der er seit 1920 verheiratet war. Sie hatte zwei Söhne aus erster Ehe und mit Wegner die 1923 geborene Tochter Sybille.
Die Verhaftung
Am 16. August 1933 wurde Wegner von der Gestapo verhaftet: Die Beamten hatten sein Zelt am Sakrower See bei Potsdam entdeckt, wohin er zum Schutz und zum Schreiben gezogen war. Sie brachten ihn in das seit dem Sommer 1933 von der Gestapo genutzte Militärstrafgefängnis Columbiahaus in Berlin-Tempelhof. Auch für andere spätere Häftlinge der emsländischen Konzentrationslager wie Friedrich Ebert jr., Theodor Haubach, Ernst Heilmann oder Hans Litten stand das Columbiahaus am Anfang ihres Leidensweges.
Vom 19. August bis zum 6. September war Wegner dann im KZ Oranienburg inhaftiert, bevor er zunächst in das KZ Börgermoor, dann in das KZ Lichtenburg überstellt wurde.
Wegner hat in dem autobiographischen Roman „Das Verhängnis“ beschrieben, wie er im Columbiahaus geknebelt und bis zur Bewusstlosigkeit mit einer Reitpeitsche geprügelt wurde. In Gesprächen äußerte er, wie dramatisch dieses Ereignis für ihn war: Er trat demnach aus sich heraus, um sich als eine Art „zweites Ich“ selbst zu beobachten. Dieser Akt der Dissoziation reflektiert eine traumatische Grenzüberschreitung, die Wegner vor allem in den ersten Tagen erlebte und ihn fortan häufig bis in seine Träume verfolgte. Womöglich hat Wegner Ähnliches in dieser Intensität nicht noch einmal in den folgenden Wochen erlebt.
Gründe
Warum war Wegner verhaftet worden? Der Schriftsteller war in keiner Partei aktiv, ohne politisches Amt und auch kein Journalist. Aber er war als Intellektueller, Pazifist und Menschenrechtsaktivist unbequem. Bereits im Ersten Weltkrieg war er wegen einiger Gedichte belangt worden, die als unsittlich galten. 1931 hatte er sich mit Carl von Ossietzky solidarisiert, als dieser wegen „Landesverrats“ angeklagt worden war. Für Hitler war der Genozid an den Armeniern, gegen den Wegner protestiert hatte, ein Vorbild.
Bereits im Vorfeld der „Bücherverbrennungen“ stand Wegner früh mit auf den eigeninitiativ von einem Berliner Bibliothekar angefertigten „schwarzen Listen“, die von der Deutschen Studentenschaft im Mai 1933 zugrunde gelegt wurden. Wegners Werke wurden aus den Bibliotheken entfernt und in die Flammen geworfen.
Doch vor allem lenkte Wegner mit einem „Offenen Brief“ vom 11. April 1933 den Blick der Münchner Parteikanzlei der NSDAP auf sich, an die er sein „Sendschreiben an den deutschen Reichskanzler“ adressiert hatte. Zeitungen waren schon nicht mehr bereit, den Brief zu veröffentlichen. Der Eingang wurde Wegner zwar bescheinigt, aber ob Hitler das Schreiben vorgelegt wurde, ist unbekannt.
Im Zeichen des antijüdischen Boykotts vom 1. April 1933 und des „Berufsbeamtentumsgesetzes“ sechs Tage später protestierte Wegner mit seinem Brief gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland. Er mahnte als preußischer Patriot, hob die Verdienste der Juden für das Land hervor und wie verwandt sie den Deutschen wegen ihres „gemeinschaftlichen Schicksals“ seien. Er warnte vor den Folgen der antijüdischen Verfolgung, die am Ende die Deutschen selbst treffen würde.
„Und während ein Teil des Volkes, das eine solche Haltung niemals vor seinem Gewissen verteidigen könnte, diesen Vorgängen zujubelt, in der Hoffnung auf einen Lohn, überläßt es die Verantwortung der Staatsregierung, die diese Maßregeln in kalter Austreibung fortsetzt, vielleicht noch schlimmer als ein Gemetzel, ja weniger entschuldbar als dieses, weil sie das Ergebnis ruhiger Überlegung ist und nicht anders enden kann, als in einer Selbstzerfleischung unseres Volkes. Denn was muß die Folge sein? An die Stelle des sittlichen Grundsatzes der Gerechtigkeit tritt die Zugehörigkeit zu einer Art, einem Stamm.“
http://www.exil-archiv.de/grafik/biografien/wegner/brief.pdf
Mit rhetorischen Mitteln versuchte Wegner, die antijüdischen Argumente Hitlers intellektuell zu widerlegen, allerdings nicht ohne dabei „die Juden“ zugleich als eine von „den Deutschen“ verschiedene ethnische Gruppe zu essentialisieren. Wegners Appell mündete in einer verzweifelten Utopie:
„Was wäre ein Deutschland ohne Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit? (…) Wir wollen Würde, wenn wir Gerechtigkeit fordern. Ich beschwöre Sie! Wahren Sie den Edelmut, den Stolz, das Gewissen, ohne die wir nicht leben können, wahren Sie die Würde des deutschen Volkes!“
http://www.exil-archiv.de/grafik/biografien/wegner/brief.pdf
Auslöser seiner Verhaftung war aber die Denunziation durch eine Mieterin des Hauses von Wegner in Neuglobsow am Stechlinsee, wo sich die Familie vor allem im Sommer aufhielt. Wegners Frau war dort antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Als er verhaftet wurde, hielt sich Lola Landau bereits in Schweden auf, später in Kopenhagen, schließlich für mehrere Monate in London. Sybille war in dieser Zeit bei Landaus Mutter in Berlin. Landau selbst lebte im Zwiespalt zwischen Familie und ihrem wachsenden Zionismus, für den sie sich schon in Berlin eingesetzt hatte:
„(I)ch darf nicht vergessen das ungeheure Schicksal, was ich zurückließ (,) und die Aufgabe, an der ich weiterarbeiten muß. (…) ich weiß, daß ich deutsches Blut, deutsche Landschaft, deutsche Sprache in mir aufgenommen habe. (…) Und nun ist das eine allerdings nötig. Ein unglückliches Volk von seinem Elend und seinem unsäglichen Leiden zu erlösen, mein Volk, das auch du liebst und erkannt hast in seiner tragischen Schönheit (…).“
Lola Landau an Armin T. Wegner, 16.8.1933, Mölle (Schweden) (Landau/Wegner 1999: 7).
Wegner erkannte – auch weil ihm dies andere Vertraute zutrugen – in der jüdischen Herkunft seiner Frau, ihrem Zionismus und der Tatsache ihres Aufenthalts im Ausland, die als Flucht und Opposition gewertet wurde, zunehmend einen wesentlichen Grund für sein „Schicksal“. Die Zeit seiner Haft war auch die einer wachsenden Entfremdung in seiner Ehe, zumal er wiederholt in den Briefen an seine Frau beklagte, dass sie sich nicht genug um ihn kümmere, ihm nicht oft genug schreibe oder sich nicht hinreichend für ihn einsetze. Denn Wegner hoffte inständig darauf, dass ihm seine Bekanntheit und sein vehementes Bekenntnis zu Deutschland letztlich zur Freiheit verhelfen würden.
Die Tagebuchhefte
In seinen Tagebuchheften begann Wegner mit dem Abtransport aus dem KZ Oranienburg ein neues Heft, das zweite der insgesamt vier. Überschrieben ist es mit „7. September 33“. Das ist die einzige Datierung für die kommenden gut vierzig, meist eng beschriebenen Seiten, die auch den Transport in das KZ Börgermoor und Wegners dortige Haft beinhalten. Das dritte Heft ist der Haft im KZ Lichtenburg gewidmet, wohin Wegner um den 20. Oktober überführt wurde. Wegners Einträge sind einigermaßen chronologisch, aber nicht tageweise oder als Chronik angelegt. Das macht eine genaue Datierung schwierig, aber gesichert ist, dass der Transport mit Wegner am 13. September im KZ Börgermoor ankam.
Die Notizen lesen sich wie das in mehreren Etappen gebündelte Material für einen später zu schreibenden Bericht, den Wegner tatsächlich begann, wohl bald nach der Entlassung, die Arbeit daran aber einige Jahre nach dem Krieg als für ihn unerfüllbar einstellte (Wilfinger 2011: 104). Weder ein Buch über die Lager noch eines über das deutsche Schicksal insgesamt, das er schon in den Lagern ins Auge gefasst hatte, gelangen dem Schriftsteller.
Wegner beobachtete und notierte, anfangs eher in einem „faktenhaften Protokollstil“, der während der KZ-Haft seltener wurde (Wilfinger 2011: 106). Er hielt in kurzen Sätzen viele Szenen, Gespräche und Zitate fest. Gelegentlich finden sich auch retrospektive Episoden aus der Haftzeit nachgetragen. Immer wieder wechseln Selbstbeschreibungen mit Schilderungen seiner Umgebung ab. Übergenau registrierte er auf dem Transport von Berlin ins Emsland die Geräusche und notierte seine Angstattacken.
Der Transport in das KZ Börgermoor
Den Transport in das KZ Börgermoor schilderten Wegner und seine zweite Frau, Irene Kowaliska-Wegner, in einem 1979 geführten Gespräch mit Jörg Deuter genauer. In dem entsprechenden Tagebuchheft schwieg Wegner sich dazu aus – wohl auch aus Gründen des Selbstschutzes, falls das Heft entdeckt werden würde.
„Die Anfahrt (…) dauerte tagelang. Die Häftlinge waren in enge Gefängniswagen eingeschlossen, jeder in einer Einzelzelle, in denen sie sich nicht bewegen konnten. (…) Bis heute behielt der Dichter von dieser Deportation (…) einen Schock.„
Deuter 1979: 246
Diesem Bericht zufolge, der anderen Selbstzeugnissen entsprach, mussten die Häftlinge stundenlang vom Bahnhof in Papenburg bis zum KZ Börgermoor gehen. Dort ließ die SS die „Prominenten“ für längere Zeit mit ihrem Gepäck strammstehen, um sie dann in der „Postbaracke“ zu misshandeln. Ob und was genau Wegner selbst dort oder in den folgenden gut sechs Wochen im KZ Börgermoor an Schikanen oder Gewalt widerfuhr, ist nicht bekannt.
Im KZ Börgermoor
Auf den ersten sieben Seiten des Abschnitts im Tagebuchheft zum KZ Börgermoor hat Wegner mehrfach die Landschaft, das Wetter und die Stimmung beschrieben. Das Lager und seine Baracken erscheinen als unwirkliche Insel in der sie umgebenden Natur.
Wegner studierte seine Mithäftlinge genau, ihre von Arbeit und Krieg versehrte Physis, ihr Verhalten untereinander und ihren Humor. Für Wegner war das eine andere Welt, der gegenüber er zwischen aufgenötigter Kameradschaft und intellektueller Distanzierung schwankte.
Kurze Notizen dokumentieren Ereignisse, die auch aus anderen Zeugnissen bekannt sind: der Besuch von Häftlingsfrauen, die Schikanierung des ostfriesischen Juden Jakob de Jonge oder die geheime Ansprache des Rabbiners Max Abraham. Zwei Seiten sind dem Fall des Sozialdemokraten Ernst Heilmann gewidmet. Wegner zeigt Verständnis für die Wut der Häftlinge auf ihn, in dem viele von ihnen einen „Bonzen“ oder „Verräter“ sahen.
Von Leid und Kummer schrieb Wegner nur im Zusammenhang mit seiner Familie. Schikanen und Quälereien von Wachleuten an ihm oder anderen Häftlingen notierte Wegner in seinem Tagebuchheft gar nicht, obwohl sich diese in anderen Selbstzeugnissen zum KZ Börgermoor wie denen von Max Abraham oder Wolfgang Langhoff umfänglich finden. Einzig in einem kleineren Konvolut loser Blätter – um die Notizen besser verstecken zu können oder erst nachträglich verfasst – finden sich Hinweise auf Misshandlungen der Wachleute (Wilfinger 2011: 124), die im Tagebuch nur vereinzelt erwähnt werden.
Funktionshäftling
Ein möglicher Grund dafür, dass sich in Wegners Tagebuch keine Schilderungen selbst erfahrener Gewalt finden und auch sonst die Willkür der Wachleute nicht zum Thema wurde, ist seine herausgehobene Stellung unter den Häftlingen. Bereits im KZ Oranienburg war Wegner für die Poststube und die Durchführung der Zensur verantwortlich. Im KZ Börgermoor machte ihn die SS bereits am 18. September zum Assistenten des Lagerarztes, dann am 7. Oktober zum Verantwortlichen für die Küchenvorräte und die Essensplanung: Er hatte den Schlüssel zur Speisekammer.
Wegner arbeitete in der Verwaltungsbaracke des Lagers und hatte so engeren Kontakt mit der Lagerverwaltung und den Wachmannschaften, von denen einige seine Reiseberichte kannten.
„Überhaupt muß ich sagen, daß ich unter den SS-Männern viel verständnisvolles Entgegenkommen und tatreiche Hilfe gefunden habe. Deutsches Wesen und deutsche Offenheit können eben trotz mancher Mißverständnisse nicht aneinander vorübergehen, ohne sich zu erkennen und zu berühren.“
Armin T. Wegner an Lola Landau, 21.9.1933, KZ Börgermoor (Landau/Wegner 1933: 22).
An einigen Abenden hielt Wegner Vorträge über seine Reisen – für die Häftlinge, aber auch für die Wachleute. Wegner wurde zudem auf eigene Initiative mit der Aufgabe betraut, eine Lagerbibliothek aufzubauen, was es ihm ermöglichte, an eigenen literarischen Texten weiterzuarbeiten. Auch im KZ Lichtenburg übernahm Wegner die Aufgabe des Bibliothekars. An beiden Orten warb er international erfolgreich um Bücherspenden.
Somit war Wegner während seiner Lagerzeit fast durchgängig als Funktionshäftling eingesetzt. Die schwere Moorarbeit musste er nicht verrichten. Seine Position verlangte einerseits eine gewisse Anpassung und Camouflage an die Wachmannschaften, wohl auch bis hin zum Inhalt seiner Aufzeichnungen und Briefe, prägte andererseits aber das Verhalten der anderen Häftlinge ihm gegenüber.
Wegner und sein „Schicksal“
Armin T. Wegner behielt sein Bekenntnis zu „Deutschland“ und dem deutschen „Volk“ trotz der Haftzeit bei. Die deutsche „Kultur“ war für ihn eine überzeitliche Größe, auf die er auch Hitler mit seinem Offenen Brief zu verpflichten suchte.
Durchweg ordnete er seine Verhaftung und seine Lagerhaft in ein übergeordnetes Schicksal ein, das ihm widerfuhr. Er betrachtete sich als Unschuldiger – die Oberen hätten dies nur noch nicht erkannt. Für ihn gab es viele, die zu Recht in den Lagern waren, und nur wenige, mit denen er sich als ebenfalls Unschuldige solidarisierte. Doch über die Zeit wuchs so etwas wie ein Kameradschaftszirkel mit einigen Häftlingen heran: „Das gemeinsam durchlittene Schicksal schafft eine tiefe Gemeinschaft“, schrieb er am 18. Dezember an seine Frau aus dem KZ Lichtenburg, als seine mit ihm dorthin transportierten Mithäftlinge aus dem KZ Börgermoor bereits entlassen worden waren (Landau/Wegner 1999: 55).
Zugleich sprach er gegenüber Lola Landau auch vom „Edelmut“, vom „feinen Verständnis“ und von der „Kameradschaft“ unter seinen Vorgesetzten in der Lagerverwaltung des KZ Börgermoor (Landau/Wegner 1999: 42). Ähnliche Passagen finden sich auch in den Tagebuchnotizen.
Wegner wollte der Situation einen Sinn abgewinnen. Er sah seine Haftzeit als ein „Opfer“ (Landau/Wegner 1999: 20) von historischer Bedeutung, das er für den Umbruch und zugunsten Deutschlands brachte.
„Wer sich nicht opfert, wird sich nicht vollenden (…). Wer weiß, welch tieferer Sinn für mein Werk und für mein Leben darin liegen mag, auch in diese Tiefen, diese Leiden hinabgestiegen zu sein, auch hier in engster Gemeinschaft mit dem einfachen Volke und mit dem großen tragischen Schicksal Deutschlands verbunden.“
Armin T. Wegner an Lola Landau, 17.10.1933, KZ Börgermoor (Landau/Wegner 1999: 36).
In den Briefen an seine Frau trat immer deutlicher hervor, dass er sie für seine Situation mitverantwortlich machte und sich von ihr bei aller Verbundenheit ebenfalls immer weiter distanzierte. Er trennte zwischen einem „Schicksal“ der „Völker“ und der „Familie“:
„(S)elbst wenn es zu einer Scheidung unserer Ehe kommen sollte, (musst Du, Vf.) erkennen, daß hier das Gebot des Volkes, des Blutes oder der Rasse sein Machtwort spricht, dem wir uns beugen müssen (…).“
Armin T. Wegner an Lola Landau, 12.10.1933, KZ Börgermoor (Landau/Wegner 1999: 30).
Am 17. Oktober 1933, nach seiner Verlegung in das KZ Lichtenburg, verfasste Wegner sogar eine „Verteidigungsschrift gegen den Verdacht der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“. Er bestritt darin, Pazifist zu sein, betonte sein nationales Engagement und bekundete, sich nie gegen das nationalsozialistische Regime gewandt zu haben (vgl. Wilfinger 2011: 114f.).
Nach der Haft
Das früh erlassene Schreibverbot und Wegners Haftzeit stürzten die in dieser Zeit an mehreren Orten lebende Familie in eine schwere Krise. Dennoch tat Wegner nach seiner Entlassung etwas Bemerkenswertes: Er fuhr in den Nordwesten des Deutschen Reiches zurück, um sich bei einem ostfriesischen Bürgermeister für einen Mithäftling einzusetzen. Das war nicht nur erfolglos, sondern brachte ihm eine weitere Woche Gefängnishaft in Leer ein.
Nach seiner Entlassung reiste Wegner zu seiner Frau und Tochter nach England. Sie kehrten aber bald wieder nach Deutschland zurück. Landau war immer mehr zur Zionistin geworden. Anfang 1936 ging sie mit einem der Söhne aus erster Ehe und der gemeinsamen Tochter nach Palästina. Armin T. Wegner folgte ihr, verließ das Land aber nach wenigen Monaten wieder und zog in das süditalienische Künstlerdorf Positano. 1939 wurde die Ehe geschieden.
Wegner blieb in Italien, heiratete dort ein zweites Mal und wurde mit einigen Preisen geehrt. 1968 erhielt er die Auszeichnung eines „Gerechten unter den Völkern“ von der Gedenkstätte Yad Vashem. Aufgrund seiner Verfolgung und des Exils wurde Wegner in Deutschland jedoch nahezu vergessen. Er selbst verstummte weitgehend. Hafterfahrung, Heimatverlust und wohl auch eine patriotische Sinnkrise trugen dazu bei.
Erst 1974 erschien eine Auswahl seiner Werke im Peter Hammer Verlag in Wuppertal, seiner Heimatstadt: „Fällst Du, umarme auch die Erde oder Der Mann, der an das Wort glaubte.“ Aus Anlass seines 90. Geburtstags und seines Todes zwei Jahre später machten verschiedene Veröffentlichungen in der Bundesrepublik auf ihn aufmerksam.
Als Armin T. Wegner sich 1976 von einem „Stern-Reporter“ verabschiedete, der ihn in Rom ausfindig gemacht hatte, sagte er: „Ich war der einsamste Mensch. Ich habe noch viel zu sagen. Bleibt doch.“
Literatur
Deuter, Jörg: Am Ziel der tausend Straßen. Armin T. Wegner im KZ Börgermoor 1933, in: Emsland-Jahrbuch 25 (1979), S. 242-251.
Landau, Lola/Wegner, Armin T. (1999): „Welt vorbei“. Die KZ-Briefe 1933/1934, Berlin.
Nikisch, Reinhard M. G. (1982): Armin T. Wegner. Ein Dichter gegen die Macht, Wuppertal.
Tamcke, Martin (1993): Armin T. Wegner und die Armenier. Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Göttingen.
Wernicke-Rothmayer, Johanna (Hg.) (2011): Armin T. Wegner. Schriftsteller, Reisender, Menschenrechtsaktivist, Göttingen.
Dies. (1982): Armin T. Wegner. Gesellschaftserfahrung und literarisches Werk, Frankfurt am Main/Berlin.
Wilfinger, Laura (2011): „In keinem Augenblick hört die Beobachtung in mir auf“. Die Lagerbücher von Armin T. Wegner: Notate aus Oranienburg, Börgermoor und Lichtenburg, August bis Dezember 1933, in: Wernicke-Rothmayer (Hg.), Wegner, S. 101-135.
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