Am 13. September 1933 kam der 29-jährige Rathenower Rabbiner Max Abraham mit einem „Prominenten“-Transport aus dem KZ Oranienburg auf dem Bahnhof in Papenburg und von dort aus im KZ Börgermoor an. Sein knapp vierzig Seiten umfassender Bericht über die Haftzeit erschien 1934 unter dem Titel „Juda verrecke. Ein Rabbiner im Konzentrations-Lager“ in der Tschechoslowakei. Er endet mit einem Aufruf an die Welt: „Menschheit erwache!“
Cover von Max Abraham, Juda verrecke. Ein Rabbiner im Konzentrationslager, Teplitz-Schönau 1934 (abgedruckt in : Klaus Drobisch/Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 1993, S. 172).
Bereits im November 1934 informierte über Abrahams Bericht die in Saarbrücken erscheinende „Deutsche Freiheit“.
Deutsche Freiheit, 27.11.1934.
In seinem Bericht schildert Max Abraham, wie auch Wolfgang Langhoff und der „sozialdemokratische Arbeiter“, nicht nur seine Haft im KZ Börgermoor, sondern auch, wie er dorthin und wieder herausgekommen war. Er wollte damit seinen „jüdischen Freunden und allen Freiheitskämpfern auf der ganzen Welt […] zeigen, welche Qualen die jüdischen und politischen ‚Schutzhäftlinge‘ zu erdulden haben“.
Bereits der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 war für Abraham Anlass, einen Ausweg ins Ausland zu suchen. Bei dem sogenannten „Judenboykott“ beschädigten die Nationalsozialisten nicht nur Geschäfte von Jüdinnen und Juden. Auf offener Straße und im Beisein von Passant:innen nutzten SS und SA den Boykott zum Anlass für massive Beschimpfungen, Schikanen und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden.
Rathenow, Oranienburg, Börgermoor
Die rasche Eskalation antisemitischer Haltungen und Gewalt bekam Abraham besonders am 26. Juni 1933 zu spüren. Er war gerade aus Berlin gekommen und hatte sein Visum für Belgien schon in der Tasche, als er abends in Rathenow vom SA-Sturmbann-Adjutanten Meiercord überfallen wurde.
„Als ich hier zum ersten Male vor den Augen der Polizei mißhandelt wurde, empfand ich eigentlich nicht die körperlichen Schmerzen, sondern es schnürte sich mir vor Ekel die Kehle zu. Das also war in Deutschland möglich! Ich hatte keine Angst um mein Leben – es verlor in diesem Augenblick für mich seinen Wert.“
SS- und SA-Männer schlugen in der Polizeiwache, wo Max Abraham Anzeige wegen des Überfalls erstatten wollte, weiter auf ihn ein. Er selbst deutete dies als Rache dafür, dass sich er bereits vor 1933 gegen den Antisemitismus und gegen Übergriffe auf Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten betätigt hatte und der Sozialdemokratischen Partei nahestand.
Zunächst im örtlichen Polizeigefängnis inhaftiert, gedemütigt und gefoltert, wurde Max Abraham gemeinsam mit Rathenower „Sozialdemokraten und Demokraten“ – darunter mit Arno Ganss, Alex Grischmann und Fritz Sinasohn drei weitere Juden – am 28. Juni 1933 in das KZ Oranienburg transportiert. Nach etwas mehr als zwei Monaten kam er von dort gemeinsam mit der sogenannten „Judenkompagnie“, in der auch der Sozialdemokrat Ernst Heilmann war, nach Münster. Auch Armin T. Wegner und Friedrich Ebert waren Teil dieses „Prominenten“-Transports.
„Ich war mit Heilmann und Armin T. Wegener [sic!] in einer Zelle [in Münster]. Heilmann war in einer etwas besseren seelischen Verfassung. Schon die Entfernung aus dem Oranienburger Lager richtete ihn etwas auf. Aber bald hörten wir, dass im Papenburger Lager SS-Bewachung sei, die den Ruf besonderer Rohheit genießt. In einer Zeitung lasen wir, dass man am Tage zuvor in Papenburg einen Schutzhaftgefangenen auf der Flucht erschossen hatte. Nun ahnten wir, was uns bevorstand, zumal wir auch hörten, dass die Schutzhaftgefangenen dort zu schweren Moorarbeiten verwendet wurden.“
Max Abraham, Juda verrecke! Ein Rabbiner im Konzentrations-Lager, Teplitz-Schönau 1934, S. 23.
Am 13. September kamen die ehemaligen Oranienburger Häftlinge am Bahnhof in Papenburg an. Armin T. Wegner, dessen Erfahrungen der Haft in den – zensierten – Briefen an seine Frau Lola Landau festgehalten sind, kommt in Abrahams Beschreibung des Wegs vom Bahnhof in das Konzentrationslager Börgermoor eine besondere Bedeutung zu. Er sei „mit einem Zentner schweren Koffer bepackt“ gewesen. Die Last der Bücher in diesem Koffer machte für Wegner den Weg durch die Hitze des Spätsommers besonders beschwerlich.
Abraham beschreibt, wie diese Werke und Symbole der Intellektualität und Bildung für Wegner zur Qual wurden, da die SS es ihm nicht gestattete, den Koffer zurückzulassen oder an „Papenburger Einwohner“ zu verschenken. Nach weiteren Beleidigungen und Gewaltausbrüchen der SS-Männer kamen Abraham und Wegner „blutüberströmt im Papenburger Lager“ an. Mit der Nummer 166 wurde Max Abraham der Baracke zwei zugeordnet. Mit ihm war dort auch der „Rektor Mönchow [sic!] aus Luckenwalde“ untergebracht. Erwin Münchow war nach 1945 Mitglied im Landtag für die SPD in NRW und 1956 Mitveranstalter des ersten großen Treffens der Überlebenden der Emslandlager in Papenburg.
Antijüdische Schikanen im KZ Börgermoor
Max Abraham stellt in seinen Beschreibungen insbesondere anhand der Misshandlungen des Sozialdemokraten Ernst Heilmann heraus, dass „prominente“ ebenso wie jüdische Gefangene besonders brutal behandelt wurde. Konkret gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine formale rassistische Grundlage für die Inhaftierung von Jüdinnen und Juden. Meist wurden sie, wie auch Jakob de Jonge aus Weener in Ostfriesland, als Gegner des Regimes in sogenannte „Schutzhaft“ genommen.
Gerade der Fall von Max Abraham zeigt, dass für jüdische Gefangene in Konzentrationslagern besonders schlimme Bedingungen herrschten. Die Verachtung gegenüber Juden und Jüdinnen, die die Nationalsozialisten von 1933 an mit Gesetzen und Verordnungen festschrieben und die in der Ermordung der europäischen Juden ab 1939 mündete, ist in Max Abrahams Bericht bereits deutlich zu erkennen. So beschreibt er unter anderem die Qualen, die vor allem jüdische Häftlinge im „Bunker“, der Arrestbaracke des Konzentrationslagers Börgermoors, erleiden mussten.
Die SS-Wachmannschaften nutzten außerdem jüdische Feiertage, um gezielt durch die Gefangenen selbst den jüdischen „Glauben […] in den Schmutz zerren zu lassen“. Für Abraham war gerade dies besonders drastisch, da er nicht nur dem Judentum angehörte, sondern als Rabbiner eine besondere Nähe, Verpflichtung und Vorbildfunktion für den jüdischen Glauben hatte. Nachdem Abraham sich den Forderungen der SS verweigerte, in einer Dunggrube einen Gottesdienst zu halten, wurde er von ihnen so misshandelt, dass er „Fieber bekam und in Krämpfe verfiel“. Dieser Fall einer antijüdischen Schikane zirkulierte, wie ein Bericht im „Neuen Vorwärts“ vom 23. Dezember 1934 zeigt, bereits rasch in der Exilpresse, wenn auch ohne konkreten Bezug auf Abraham.
Max Abraham beweist mit seinem Zeugnis, dass er, wie auch Jakob de Jonge, die Konzentrationslager körperlich und geistig überlebte. Er verschweigt jedoch nicht, dass ein jüdischer Gefangener aufgrund der Folter „irrsinnig“ wurde und „mehr einem Gespenst als einem lebenden Menschen“ glich. Über Heilmann schrieb Max Abraham:
„[Ich] weiß, dass er geistig und körperlich vollkommen gebrochen ist.“
Heilmann war aufgrund der Misshandlungen Ende September 1933 in das Krankenhaus Papenburg eingeliefert worden. Er wurde 3. April 1940 im KZ Buchenwald ermordet.
Abrahams Text beschreibt meist detailliert, aber distanziert und dadurch umso drastischer die sadistische Gewalt der SS-Männer. Dem stellte der Rabbiner seine eigenen empathischen und sorgenvollen Gedanken über das Leiden der Häftlinge und die Solidarität entgegen, die er von anderen Häftlingen erfuhr. Auf der Krankenstation des Konzentrationslagers Börgermoor war er nach massiven Misshandlungen nur mit „Sozialdemokraten und Kommunisten“ untergebracht. Diese kümmerten sich „aufopfernd“ um Abraham. Wie auch im Vorwort von Dr. K. L. Reiner betont Abraham die Solidarität mit Kommunisten und Sozialdemokraten.
Hierdurch wird unterstrichen, dass jüdische Gefangene auch dann eine durch die Behandlung der SS distinkte Gruppe bildeten, wenn sie, wie Abraham selbst, der SPD nahestanden oder angehörten. Solidarität bedeutet in Abrahams Bericht eine Zusammenarbeit zwischen Gruppen, die zwar Unterschiede in Weltanschauung und Behandlung durch die SS wahrnimmt. Abraham beschreibt aber, auch in seinem religiösen Selbstverständnis und als Seelsorger, anderen Häftlingen, wie beispielsweise dem „katholischen Minister“ Heinrich Hirtsiefer, „Mut zu machen“.
Als eine Woche nach der „Deutschen Freiheit“ auch der „Neue Vorwärts“ am 3. Dezember 1934 eine ausführliche Rezension des Buches von Max Abraham veröffentlichte („Der Rabbiner im K.Z. – Heilmann und A. T. Wegners Martyrium“), ging der Verfasser auch auf das besondere Schicksal der jüdischen Häftlinge ein. Im letzten Absatz trat aber eine Deutung hervor, nach der sie – wie die politischen Gegner des NS-Regimes – wegen ihres „Glaubens“ und ihrer „Gesinnung“ als „Aufrechte“ verfolgt und zu Märtyrern wurden, was den Charakter des nationalsozialistischen Antisemitismus noch verkannte.
„Der Rabbiner im K.Z. – Heilmann und A. T. Wegners Martyrium“, Neuer Vorwärts, 3.12.1934.
Über das KZ Lichtenburg ins Londoner Exil
Vom Konzentrationslager Börgermoor kam Max Abraham am 17. Oktober 1933 auf einen Transport ins KZ Lichtenburg im Kreis Torgau. Dort trafen am Tag darauf etwa 75 Häftlinge aus den Konzentrationslagern Börgermoor und Esterwegen ein. Darunter waren Abrahams Bericht zufolge überwiegend jüdische Gefangene, einige davon hatten bereits den Weg aus dem KZ Oranienburg gemeinsam mit Abraham zurückgelegt.
Knapp zwei Wochen später verließ Max Abraham das KZ Lichtenburg im „Polizeikäfig“. Er sollte am 3. November 1933 vor dem Schöffengericht in Rathenow zu seiner Gerichtsverhandlung erscheinen: „Ich wurde der schweren Körperverletzung – §§ 223, 223 a – beschuldigt.“ Ein faires Gerichtsverfahren, an das Abraham laut Bericht zu diesem Zeitpunkt noch „glaubte“, sollte sich als Illusion herausstellen. Bis zum 21. Dezember 1933 blieb Abraham als „Schutzhäftling“ im Rathenower Polizeigefängnis.
Als seine sechsmonatige Haft infolge des Urteils drohte, floh Max Abraham im Frühjahr 1934 mit seiner Frau in die Tschechoslowakei, wo er sich weiter gegen Antisemitismus und die politischen Entwicklungen im Deutschen Reich öffentlich engagierte. Seinen Bericht verfasste er auch als Richtigstellung gegen das propagandistische Buch des SA-Kommandanten Werner Schäfer über das KZ Oranienburg, der im April 1934 zum Kommandanten der emsländischen Strafgefangenenlager geworden war.
Am 11. Juni 1935 wurde im „Deutschen Reichsanzeiger“ die Ausbürgerung von Max Abraham verkündet, mit der die Beschlagnahmung seines in Rathenow zurückgelassenen Besitzes einherging.
Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Reichsanzeiger, 11.6.1935.
1937 nahm Abraham eine Tätigkeit als Kantor östlich von Prag an und floh nach dem deutschen Einmarsch im März 1939 über Frankreich nach Großbritannien. Dort trat er der Emigrantengemeinde in London bei. Max Abraham starb am 23. Juni 1977 im englischen Bournemouth.
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Literatur
Max Abraham, Juda Verrecke! Ein Rabbiner im Konzentrations-Lager, Teplitz-Schönau 1934.
Irene A. Dieckmann und Klaus Wettig (Hrsg.), Konzentrationslager Oranienburg. Augenzeugenberichte aus dem Jahre 1933, Potsdam 2003.
Hans-Peter Klausch, Jakob de Jonge. Aus deutschen Konzentrationslagern in den niederländischen Untergrund, Bremen 2002.
Sandra Mette, Schloss Lichtenburg: Konzentrationslager für Männer von 1933 bis 1937, in: Stefan Hördler und Sigrid Jacobeit (Hrsg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 130-165.
N.N., Max Abraham (URL: https://www.fruehe-texte-holocaustliteratur.de/wiki/Abraham,Max(1904-1977).
Markus Roth, Juda verrecke (1934) (URL: https://www.fruehe-texte-holocaustliteratur.de/wiki/Juda_verrecke_(1934)).
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