Am 1. August 1933 erreichte der bis dahin größte Häftlingstransport das sechs Wochen zuvor mit den ersten Häftlingen belegte KZ Börgermoor. Dem Transport kommt für die Geschichte der Emslandlager und die Widerstandskultur in diesen wie den späteren NS-Konzentrationslagern eine herausragende Bedeutung zu: Denn neben Wolfgang Langhoff kamen an diesem Tag auch Johann Esser, Rudi Goguel, Ernst Kircher und Hanns Kralik in das KZ Börgermoor – die wichtigsten Verantwortlichen des „Zirkus Konzentrazani“ und des dort uraufgeführten „Moorsoldatenlieds“.
Liedblatt des „Moorsoldatenlieds“ (1933). Gestaltung: Hanns Kralik (AK DIZ Emslandlager e.V.)
Einer der Häftlinge des Transports, der bislang nur als „sozialdemokratischer Arbeiter“ bekannt ist, berichtete von dessen Ankunft in einer Broschüre, die 1935 unter dem Titel „Als sozialdemokratischer Arbeiter im KZ Papenburg“ in Moskau erschien (Anonymus 1935):
„Eines Tages wurde (in der Strafanstalt Anrath bei Krefeld, d. Vf.) ein Transport nach dem Konzentrationslager Papenburg (gemeint ist Börgermoor, d. Vf.) zusammengestellt. Zwei Tage vor unserer Abfahrt wurde uns mitgeteilt, daß wir drei Tage lang kein Mittagessen erhalten würden, weil … die Kommunisten in Berlin eine neugepflanzte Hindenburgeiche umgehauen hätten! Zwei Tage später, um 6 Uhr früh, hieß es antreten. Wir fuhren im Zug über Krefeld, Duisburg, Ruhrort, Oberhausen, Rheine nach Börgermoor. Auf jeder größeren Station kamen neue Gefangene hinzu. Den ganzen Tag bekamen wir nichts zu essen. Endlich, nach zwölf Stunden ermüdender Bahnfahrt, kamen wir in Dörpen an. Dort hörten wir, daß unser 564 Gefangene waren. Bis dahin waren wir noch nicht mißhandelt worden, von nun an aber sollte es zur Regel werden. Kaum ging die Tür des Abteils auf, schon fing das Schlagen an.“
Anonymus, Als sozialdemokratischer Arbeiter im Konzentrationslager Papenburg, Moskau 1935, S. 9.
Die Quelle
Die 72 Seiten lange Broschüre erschien in Moskau etwa zur selben Zeit wie Wolfgang Langhoffs Buch „Die Moorsoldaten“ in Zürich. Die Datierung des Vorworts „Sept. 1934“ und das Künstlerkürzel „KV34“ auf dem Cover lassen eine Fertigstellung des Manuskripts im Herbst 1934 annehmen. Die Broschüre ist vor einigen Jahren als Faksimile nachgedruckt worden. Aufgrund des Formats (A6) und der broschürenartigen Aufmachung dürfte die Publikation angefertigt worden zu sein, um illegal ins Deutsche Reich geschmuggelt zu werden. 1938 wurde die Broschüre auf die „Liste der schädlichen und unerwünschten Literatur“ gesetzt.
Der Verfasser hatte keinen literarischen Anspruch. Anders als Langhoffs Bericht entspricht der Text nicht dem Muster eines persönlichen Entwicklungsromans. Der Stil ist sachlich und beschreibend, aber auch knapp und pointiert. Direkte Rede, detaillierte Wiedergaben von Abläufen und konkrete historische Informationen dienten dazu, den Text glaubwürdig zu machen. Der Aufbau ist überwiegend chronologisch organisiert und stellt vor allem besondere Ereignisse dar, die sich überwiegend genau datieren lassen. Auf die Beschreibung des „Lagerlebens“ folgen mehrere thematische Schwerpunkte, insbesondere der „Zirkus Konzentrazani“, der Fall Ernst Heilmann, der Besuch von Häftlingsfrauen, die SS und ihre Ablösung im November sowie die „Weihnachtsamnestie“ im Dezember 1933.
Ganz im Einklang mit ähnlichen Berichten in dieser Phase bekräftigte der „Arbeiterdichter“ und kurz zuvor aus seiner eigenen KZ-Haft entlassene Willi Bredel in seinem Vorwort, der „ehrliche Bericht“ teile die „Wahrheit über die Zustände in einem deutschen Konzentrationslager“ mit. Entsprechend ist der insgesamt sehr nüchterne Text an vielen Stellen auf präzise Angaben zu kalendarischen Daten, Uhrzeiten und Strukturen bedacht. Es ist viel über die formellen und informellen Verhaltensregeln zu erfahren, die das Lager zu einer „anderen“ Welt machten. Aber der oft in Wir-Form formulierte Bericht ist vor allem von der Absicht getragen, die Solidarität der sozialistischen Revolutionäre als prägende Kollektiverfahrung zu vermitteln.
Der Verfasser
Der „sozialdemokratische Arbeiter“ bleibt selbst anonym. Über den Verfasser ist in der Broschüre wenig zu entnehmen: Er schreibt im ersten Absatz, Mitglied der SPD und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold gewesen zu sein. Er zeigt sich in seinem Bericht als überzeugter Sozialdemokrat, der aber die Kritik an den „Bonzen“ teilt. Aus Angst vor der Rache eines SA-Mannes war er „Anfang März“ 1933 aus seiner Heimat „nach H. geflohen“.
Wegen seiner „politischen Arbeit“ wurde er am 13. Juli 1933 in seiner Wohnung von „zwei Kriminalbeamten“ verhaftet und wenige Tage später in die Strafanstalt Anrath überstellt. Dort hatte die preußische Staatspolizei Düsseldorf im April 1933 einen Bereich für 700 bis 1.000 „Schutzhäftlinge“ im ehemaligen Frauentrakt eingerichtet, um andere Haftstätten nach den Verhaftungswellen im März zu entlasten. Im Zuge der „Weihnachtsamnestie“ für Schutzhäftlinge in Preußen im Dezember 1933, die der Leiter der Preußischen Geheimen Staatspolizei, Rudolf Diels, persönlich im KZ Esterwegen für „1135 Gefangene“ der emsländischen Konzentrationslager verkündete, wurde auch der davon berichtende „Arbeiter“ entlassen.
Im Unterschied zu Wolfgang Langhoffs „Die Moorsoldaten“ ist der Bericht auf die Zeit im KZ Börgermoor beschränkt. Die kurze Gefängniszeit fand vermutlich keine Erwähnung, weil er während dieser Zeit keine Misshandlungen erfahren hat. „H.“ wiederum könnte – aufgrund der Überstellung nach Anrath – für Hamborn oder Homberg stehen, beides Stadtteile von Duisburg. Es gab dort starke Widerstandskreise. Ob der „Arbeiter“ weiterhin für die zwischen März und Juni 1933 in rascher Folge vom NS-Regime verbotenen sozialdemokratischen Organisationen wirkte oder ob er der Linksopposition in der (Exil-)Sozialdemokratie nahestand und sich im Sinne der „Einheitsfront“ den Kommunisten annäherte, lässt sich nicht sagen. Die Anonymisierung des Berichts könnte dafür sprechen, dass der Verfasser Deutschland nach seiner Entlassung nicht verlassen hat und der Bericht in die Sowjetunion geschmuggelt wurde. Denkbar wäre auch, dass er sich zusammen mit Willi Bredel 1934 in Prag im Exil aufhielt und so der Kontakt zwischen beiden zustande kam.
Bereits im April 1934 war im „Gegen-Angriff“, einer kommunistischen und antifaschistischen Exilzeitung, ein ebenfalls anonymer, ausführlicher Bericht unter dem Titel „Die SS-Meuterei von Börgermoor“ erschienen (Anonymus 1934). Der Beitrag behandelt vor allem und sehr anschaulich – neben dem Fall Heilmann – die auch von Langhoff und dem „Arbeiter“ dargestellte Auseinandersetzung um die SS-Wachmannschaften und deren Ablösung im Herbst 1933 in den emsländischen Konzentrationslagern. Er weist zahlreiche inhaltliche Überschneidungen zu dem Text des „sozialdemokratischen Arbeiters“ auf, weicht aber in vielen Details – Zitaten, Datierungen, Namen – deutlich von letzterem ab, so dass auch aufgrund des Publikationsortes von zwei verschiedenen Verfassern auszugehen ist. Insbesondere fehlt in dem Beitrag im „Gegen-Angriff“ die Kritik an der Darstellung des Buches von Gerhart Seger über das Oranienburg, die der „Arbeiter“ in seinem Band als innerparteiliche Auseinandersetzung führt.
Auffällig gemeinsam ist den beiden Beiträgen jedoch das Muster, die Drangsalierungen der Wachleute einer unverbrüchlichen und eher zunehmend gefestigten Solidarität der Häftlinge gegenüberzustellen und davon die Dramaturgie sowie Auswahl des Berichteten leiten zu lassen. Bis zur Klärung der Identität des „sozialdemokratischen Arbeiters“ ist nicht auszuschließen, dass der Verfasser eigentlich als kommunistischer Verfolgter im KZ Börgermoor war und die sozialdemokratische Autorenschaft und Perspektive aus Propagandagründen fingiert worden ist.
Das Lager: Erste Eindrücke
„Wir langten an. (…) Es wurde soviel drauflosgeschlagen, daß man das eigene Wort nicht mehr verstehen konnte. (…) Mit zentimeterdicken Latten wurde er (der ‚Arbeiter S. aus M.‘, d. Vf.) bis zur Bewußtlosigkeit geprügelt. (…) Im Lager selbst standen zehn Baracken. Jede war etwa fünfzig Meter lang und zwölf breit und in drei Räume eingeteilt: für den Tagesaufenthalt, zum Schlafen und zum Waschen. In jede Baracke wurden hundert Mann einquartiert. Es war eng wie in einem Hühnerstall. Abends zehn Uhr ins Bett. Bett, Bettücher und Decke, alles feucht. Kein Licht in der Baracke. Jeder quälte sich mit seinen eigenen Gedanken (…).“
Anonymus, Als sozialdemokratischer Arbeiter im Konzentrationslager Papenburg, Moskau 1935, S. 11f.
Anders als de „Arbeiter“ schildert der Düsseldorfer Eugen Eggerath die Ankunft. Sein Brief vom 2. August an seine Frau Mathilde, die wie er seit März in Haft war, unterlag der Zensur.
Brief von Eugen Eggerath an seine Frau Mathilde, KZ Börgermoor, 2.8.1933 (Eggerath 2010: 107)
Eggerath wollte seine Frau zudem nicht beunruhigen. Politisches findet sich nicht, aber einiges an Beobachtungen zum Alltag der Häftlinge untereinander („zotige Witze“, „Schnarchen“). Aber liest man „zwischen den Zeilen“ gibt es Überschneidungen zu anderen zeitgenössischen Berichten.
„Müde ist man von all dem vielen Gesehenen und vom Tragen des Gepäcks. Trotzdem, mit Singen wurde der Weg, der unendlich schien, verkürzt. Endlich, nach ca 4stündigen Marsch sahen wir einige neue Baracken in der Ferne. Aber die letzten Kilometer machten die steifen Glieder schwer wie Blei. Mit einem Heißhunger fielen wir über den gereichten Kaffee her, das erste Naß seit unserem Abmarsch. Nach der Durchsuchung auf Rauchwaren wies man uns saubere einladende weiß überzogene Strohsäcke zu.“
Eugen Eggerath an seine Frau Mathilde, 2. August 1933, in: Eggerath 2010, 106-108, hier S. 106.
Eggeraths Frau wird wohl nicht angenommen haben, dass die „sauberen einladenden weiß überzogenen Strohsäcke“ der Wirklichkeit entsprachen. Womöglich hatte er aber auch – vielleicht aufgrund des unmittelbaren Erlebens und noch nicht wissend, was kommen sollte – einen Blick auf die neue Situation, der durch die Monate im Gefängnis geprägt war. Das Lager bedeutete zumindest wieder Natur, Luft, Bewegung. Aber auch hier sind in Eggeraths Brief an seine Frau vom 2. August Botschaften über die tatsächlichen Zustände versteckt:
„Obwohl es mir heute unendlich schwer fallen würde, körperliche Arbeit zu verrichten (mir schmerzen von dem gestrigen Gewaltmarsch alle Glieder), glaube ich, mich wohler wie in Anrath fühlen zu können. (…) (D)ie frische (…) Seeluft wird die Arbeit erleichtern. Dazu kommt meine angeborene Liebe zur Natur und die Lust zum Schaffen. (…) Nimm für heute die Gewißheit, daß es mir gut geht.“
Ebd., hier S. 108.
Aufschlussreich für die Interpretation dieser und anderer Passagen in den Briefen von Eugen Eggerath ist der Kommentar seiner Tochter Hanna: „Mein Vater hat niemals über seinen KZ-Aufenthalt gesprochen“ (Eggerath 2010: 109). Bis Ende August finden sich gelegentlich verwirrende Sätze – „Aus einem krummen Büro-Onkel wird hier noch ein brauchbarer, strammer Kerl (…)“ (16.8.1933, Eggerath 2010: 119) -, aber auch weitere versteckte Hinweise auf die Lagerbedingungen: „Also ich habe mich auch hier schon akklimatisiert. Das schönste ist nur die Arbeit u. die Sonne.“ (16.8.1933, Eggerath 2010: 117). Oder: „Augenblicklich bin ich erkältet, das feuchte Moor ist schuld. Und einen Hunger habe ich immer, das Brot reicht für meinen ewig hungrigen Magen nicht“ (30.8.1933, Eggerath 2010: 130).
Häftlingsgesellschaft
„564 Gefangene“: Die Zahl aus dem Bericht des „Arbeiters“ erscheint aufgrund anderer Quellenangaben als realistisch. „540 Mann“ schrieb Eugen Eggerath in seinem ersten Brief aus dem KZ Börgermoor (Eggerath 2010: 106). Ob die genauere Angabe des „Arbeiters“ so zutrifft, kann nicht verifiziert werden. Vielleicht verwendete der Autor die genaue Zahl, um seinem Bericht mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Die Zusammensetzung des Transports ist nicht bekannt: Die Namenslisten der Häftlinge hat die SS mutmaßlich – so ist auch beim „sozialdemokratischen Arbeiter“ zu lesen – bei ihrem durch den preußischen Staat erzwungenen Abzug im November 1933 zerstört. Sie sind bis heute nicht rekonstruiert worden. Neben amtlichen Quellen der Ausgangsanstalten kämen dafür Selbstzeugnisse in Frage. Doch die bald nach Flucht oder Entlassung in der Exilpresse oder eigenständig publizierten Berichte nennen nur bei wenigen „Prominenten“ deren Namen. Ansonsten wurden die Häftlinge anonymisiert oder bekamen Pseudonyme. Der „sozialdemokratische Arbeiter“ nannte dafür die SS-Täter alle mit ihren Nachnamen – auch so sollte Glaubwürdigkeit erzeugt, womöglich zudem zu strafrechtlichen Ermittlungen angeregt werden.
Aufgrund des Überlieferungsstands lassen sich hier nur beispielhaft einige Namen des Transports vom 1. August nennen: Wie der „sozialdemokratische Arbeiter“ kamen auch Ernst Kircher, Willi Dickhut und Eugen Eggerath mit insgesamt 120 Häftlingen über Anrath in das KZ Börgermoor (Eggerath 2010: 106). Aus Solingen stammten Paul Clasmann, Artur Deichmann und Walter Wilke, aus Oberhausen Hubert Böhmer und Peter Jansen, aus Simmern kam Jakob Mosmann. Allein 38 Schutzhäftlinge kamen aus dem Raum Moers, darunter Johann Esser.
Das größte Kontingent stellten wohl Häftlinge aus Düsseldorf. Sie kamen nicht nur wie Wolfgang Langhoff oder Hanns Kralik aus Gefängnissen der Stadt, sondern wie der Düsseldorfer KPD-Funktionär Karl Schabrod auch über das provisorische KZ Köln-Brauweiler in das KZ Börgermoor. Brauweiler war wie das KZ Wuppertal-Kemna eine der berüchtigten, von Folter und Willkür der Wachmannschaften geprägten Zwischenstationen für „Schutzhäftlinge“ aus der Rhein-Ruhr-Region, weil die regulären Gefängnisse überfüllt waren. Auch aus Kemna wurde am 1. August eine Gruppe von mehreren Dutzend Häftlingen in das KZ Börgermoor überstellt.
Solidarität
Unter den „Schutzhäftlingen“ des Transports vom 1. August, die zu größten Teilen als Kommunisten verfolgt und inhaftiert worden waren, bestanden viele Beziehungen aus politischen Untergrundgruppen und persönliche Bekanntschaften aus den legalen wie illegalen politischen Kämpfen am Ende der Weimarer Republik und während des frühen Nationalsozialismus. Es fällt daher auf, dass weder bei Langhoff noch beim „sozialdemokratischen Arbeiter“ die gut 280 bereits anwesenden Häftlinge ausführlicher erwähnt werden. Wichtiger war es offenbar, das Bild einer (weitgehend) einheitlichen Lagergemeinschaft zu vermitteln.
Jedoch war die Häftlingsgesellschaft weder homogen noch konfliktfrei: Eine deutliche Mehrheit – acht von zehn Häftlinge – waren zwar Kommunisten. Aber hinzu kamen Mitglieder der SPD, des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und Gewerkschaftler. Angesichts der Kontroversen um Kaderrevolution und Einheitsfront waren die Konflikte vorprogrammiert. Eine dritte, kleinere Gruppe war nicht wegen politischer Vergehen in den frühen Konzentrationslagern. Sie wurden entsprechend von den „Politischen“ mit großer Ablehnung betrachtet:
„Elemente (…), die wegen Landstreicherei und unverbesserlicher Trunksucht ins Konzentrationslager eingeliefert worden waren. Von einem Bettler (…) kann man keine politische Solidarität erwarten. (…) solche lumpenproletarischen Elemente (…), die vom Hitlerregime mit der Absicht dorthin (in die Konzentrationslager, d. Vf.) gebracht worden waren, die gemeinsame Front (von Kommunisten und Sozialdemokraten, d. Vf.) zu brechen“.
Anonymus, Als sozialdemokratischer Arbeiter im Konzentrationslager Papenburg, Moskau 1935, S. 38f.
Die herablassende Äußerung des „Arbeiters“ über die „lumpenproletarischen Elemente“, die wie viele Passagen von proletarischem Stolz und Selbstbewusstsein zeugt, lenkt den Blick auf das zentrale Thema seines Berichts: die „Solidarität“ unter den Häftlingen. Im Fall des „Arbeiters“ wurde sie aber – anders als bei Langhoff – nicht von einem Kommunisten beschworen, sondern von einem Sozialdemokraten.
„(I)hre Schläge waren auf einen Granitblock gefallen, der sich nicht erschüttern ließ: auf den Block unserer Kampfsolidarität, unserer Selbstdisziplin.“
Ebd., S. 50.
„(D)as starke Band der proletarischen Solidarität (…) (war) in dem gemeinsamen Leid und in dem gemeinsamen Kampf unzerreißbar geworden (…).“
Ebd., S. 68f.
Der „Arbeiter“ macht diese Solidarität und einen bestimmten Ehrenkodex ausführlich am Fall des sozialdemokratischen Politikers Ernst Heilmann deutlich, der in allen zeitgenössischen Berichten über die frühen Emslandlager behandelt worden ist. Er beschreibt, wie sich Heilmann mehrfach von der SS misshandeln ließ, ohne sich zu wehren. Aus „Angst vor Prügeln“ habe Heilmann alles mit sich machen lassen, auch das, „wogegen jede menschliche Würde sich sträubt“.
Als Sozialdemokrat habe er sich für seinen „Führer“ geschämt und ihm dies auch vorgehalten. Im Sinne der „Einheitsfront“ mit den Kommunisten im Lager trug er den Beschluss mit, Heilmann wegen seines Verhaltens aus der Lagergemeinschaft auszuschließen. Aber der „Arbeiter“ verwahrte sich – wie Langhoff – gegen den Vorwurf und explizit gegen ähnliche Darstellungen des SPD-Funktionärs Gerhart Seger, Heilmann sei von den Kommunisten geschlagen worden. Die politisch Überzeugten hätten sich nicht für den SS-Terror vereinnahmen lassen – wohl aber, so legt der „Arbeiter“ es nahe – die „lumpenproletarischen Elemente“.
Wie sich der „Arbeiter“ äußerte, entsprach der Position linker Sozialdemokraten, die den Kurs der (Exil-)Führung ihrer Partei kritisierten, nicht für eine „Einheitsfront“ mit den Kommunisten einzutreten, wie dies an der Basis bereits vielfach der Fall war. Werner Hirsch, ehemaliger Chefredakteur der kommunistischen „Roten Fahne“, ordnete sein erstes, 1934 erschienenes Selbstzeugnis über seine Inhaftierung in den Konzentrationslagern Brandenburg. Lichtenburg und Oranienburg ganz dem Topos der neuen revolutionären Solidarität zwischen Kommunisten und jenen Sozialdemokraten unter, die sich von ihren „Arbeiterführern“ distanzierten (Hirsch 1934a; 1934b).
Die meisten Augenzeugenberichte dieser Phase, die von politisch Verfolgten stammten (und so auch der Bericht des „Arbeiters“), waren von dem Ethos und der Vision getragen, durch die Beschwörung der Solidarität zum Sturz des NS-Regimes beitragen zu können, das sich in ihren Augen nur durch Gewalt an der Macht halten konnte und kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Börgermoor, Bredel, Brecht
Willi Bredel machte sich durch sein Vorwort zum Gewährsmann des Verfassers. Er hielt sich seit November 1934 in Moskau auf. Vorher war er elf Monate im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert gewesen und im Frühjahr 1934 nach Prag ins Exil gegangen, wo er seinen autobiographischen Roman „Die Prüfung“ über seine KZ-Haft schrieb. In der sowjetischen Hauptstadt arbeitete Bredel dann unter anderem für Radio Moskau, das 1929 ins Leben gerufene Organ für staatliche Auslandsrundfunkpropaganda der Sowjetunion. Wenige Wochen nach der Aufführung des „Moorsoldatenliedes“ im KZ Börgermoor soll es bereits von Radio Moskau gesendet worden sein.
Eine ähnliche Funktion wie Radio Moskau erfüllte die „Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR“, die den Bericht des „sozialdemokratischen Arbeiters“ verlegte. Einseitige Darstellungen der Leistungen der Sowjetunion dominierten das Verlagsprogramm. So sollte auch die Broschüre über das KZ Börgermoor das Ziel der kommunistischen Weltrevolution unterstützen. Im selben Verlag waren 1933 bereits von Hans Beimler „Im Mörderlager Dachau“ und eine Sammlung literarischer Beiträge – unter anderem von Johannes R. Becher und Anna Seghers – zur Verfolgung im Frühjahr 1933 und den frühen Konzentrationslagern unter dem Titel „Mord im Lager Hohenstein“ erschienen. Ein Jahr später erschien dort die von dem KPD-Funktionär Kurt Bürger herausgegebene Kollektion mit Augenzeugenberichten aus verschiedenen NS-Folterstätten „Aus Hitlers Konzentrationslagern“. 1937 folgte die Erzählung „Eine Fuhre Holz“ von Wolfgang Langhoff.
Nach einer polnischen Untersuchung erschienen sechs von 42 NS-Lagerberichten, die zwischen 1933 und 1939 publiziert wurden, in der Sowjetunion (Widok 2017: 27). Auch Bredels Prüfung wurde 1935 von der „Verlagsgenossenschaft“ veröffentlicht. Er war zumindest durch die Broschüre über das KZ Börgermoor und das „Moorsoldatenlied“ informiert. Bredel stand unter anderem im engeren Kontakt mit Bertolt Brecht. Zusammen mit Lion Feuchtwanger sollten sie von 1936 bis 1939 die literarische Exilzeitschrift „Das Wort“ herausgeben. 1942 nahm Brecht das „Moorsoldatenlied“ in eine überarbeitete Fassung von „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ auf. Er hatte bereits 1934 in Paris das im Jahr zuvor entstandene und von Hans Eisler vertonte Gedicht „An die Kämpfer in den Konzentrationslagern“ in der Sammlung „Lieder, Gedichte, Chöre“ veröffentlicht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Brecht damit bereits kurz nach dessen Bekanntwerden auf das „Moorsoldatenlied“ reagiert hat.
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Quellen und weiterführende Literatur
Anonymus (1934): Die SS-Meuterei von Börgermoor, in: Gegen-Angriff 2 (1934), Nr. 15 (14.4.1934).
Anonymus (1935): Als sozialdemokratischer Arbeiter im Konzentrationslager Papenburg, Moskau 1935.
Eggerath, Hanna (2010): „Deine Kraft mußt Du behalten. Briefe eines jungen Paares zwischen Gefängnis und Konzentrationslager 1933, Düsseldorf 2010.
Hirsch, Werner (1934a): Sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter im Konzentrationslager, Straßburg 1934.
Hirsch, Werner (1934b): Hinter Stacheldraht und Gitter. Erlebnisse und Erfahrungen in den Konzentrationslagern und Gefängnissen Hitlerdeutschlands, Zürich.
Morawiecz, Arkadiusz (2017): Polish Literature and the Konzentrationslager. The beginning, in: Acta Universitas Lodziensis 44, S. 23-48.
Schmidt, Bernhard, Johann Esser, in: Internetportal Rheinische Geschichte (https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/johann-esser-/DE-2086/lido/57c6a5f87818e7.53796429)
Weber, Christiane (2019): Als sozialdemokratischer Arbeiter im KZ Papenburg (https://www.fruehe-texte-holocaustliteratur.de/wiki/Als_sozialdemokratischer_Arbeiter_im_Konzentrationslager_Papenburg_(1935))
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